Interview mit Stefan Melneczuk

Vincent Preis: Lieber Stefan, zunächst einmal Glückwunsch zur Nominierung von RABENSTADT als Bester Horror-Roman 2011. Die Leser kennen dich natürlich durch deinen Roman MARTERPFAHL und die Kurzgeschichten-sammlung GEISTERSTUNDEN VOR HALLOWEEN (beide BLITZ-Verlag).

Stefan Melneczuk: Dankeschön – in der Tat: Nach den GEISTERSTUNDEN und dem MARTERPFAHL waren die Erwartungen entsprechend hoch. Immerhin haben wir meinen ersten Roman als Hardcover in Windeseile ausverkauft und gerade eben als Taschenbuch nachgelegt. Mit diesem Druck umzugehen, war neben allem Handwerklichen die eigentliche Herausforderung. Ich habe mich daher schon sehr früh dazu entschieden, diesmal einen anderen Weg zu gehen – bei allem Risiko: Es ist leichter, sich auf dem Weg nach oben auf den Autopiloten zu verlassen, als ein paar Kilometer nur auf Sicht zu fliegen, wie mit der RABENSTADT geschehen.


VP: In RABENSTADT hast du den leisen Schrecken von MARTERPFAHL gegen ein wesentlich handfesteres Szenario getauscht. Hast du den Genrewechsel bewusst vollzogen?

SM: Auch bei diesem Buch ist nichts dem Zufall überlassen. Nicht zuletzt sprachlich. Nach dem MARTERPFAHL wollte ich das Übernatürliche einmal außen vor lassen und einen Lokalkrimi schreiben, den es in dieser Form noch nicht gab. Und ich wollte darin einen Vermisstenfall schildern, der sich wirklich so zutragen könnte – mit allen Ecken und Kanten. Mir war von Anfang an klar, dass dieser Roman für ein kontroverses Echo sorgen würde.

VP: Haben dich reale Ereignisse zu RABENSTADT inspiriert?

SM: Zum Teil. Natürlich verfolge ich – berufsbedingt – die Nachrichtenlage täglich. Verbrechen gleich welcher Art sind mehr denn je zu medialen Ereignissen geworden. Sie werden entsprechend präsentiert und wahrgenommen. Das wirklich Beunruhigende hinter all den öffentlich aufgebauten Kulissen zu zeigen, war und ist mir in diesem Buch ein Anliegen. Was mir wirklich Angst macht, ist die öffentliche Wucht, die, einer Bugwelle gleich, Kriminalfällen folgt. Und in diesem Punkt wird die RABENSTADT immer wieder von der Realität eingeholt: Die Meute, von der im Roman die Rede ist, hat sich eben erst wieder gezeigt – beim Lynchaufruf im Internet, nach dem Mordfall von Emden. Das sind Mechanismen, die wirklich gefährlich werden können.

VP: Obwohl die Ereignisse im Keller des Briller Viertels recht eindeutige Schlüsse zulassen, bleibt vieles der Fantasie des Lesers überlassen. Wie stehst du zu expliziten Gewaltdarstellungen in der Horrorliteratur?

SM: Ich mag sie nicht. Ich umgehe das literarische und cineastische Gemetzel so gut ich kann. Mich langweilt, wenn sich Autoren und Regisseure mit immer neuen Gewaltdarstellungen gegenseitig zu überbieten versuchen: Geht es beim Serienmorden nicht noch bizarrer, nicht noch brutaler, nicht noch extremer? Das „Schweigen der Lämmer“ und der „Rote Drache“ waren damals großer Sport. Aber heute sind Serienkiller auf dem besten Weg, zu Lachnummern zu werden, wenn das so weitergeht. Aber das Ende ist in Sicht: Irgendwann gibt die Anatomie nichts mehr her, und alle Skalpelle sind abgenutzt. Ich bleibe dabei: Der wahre Schrecken ist der, der sich im Kopf abspielt – ohne dass dabei die Schädeldecke geöffnet wird. Andeutung ist weitaus schwieriger und eleganter als das Auswalzen und Abarbeiten blutiger Standards: Ich muss nicht wissen, wie viele Augen das Ungeheuer unter der Oberfläche hat. Mir reicht allein die Tatsache, dass es irgendwo da unten ist. Und mich beobachtet.

VP: Kurzgeschichten vs. Roman. Welche Erzählart bevorzugst du als Autor und als Leser?

SM: Wer mich kennt, der weiß, dass mein Herz seit 1985 an der Short Story hängt. Umso mehr freut es mich, dass meine nicht mehr lieferbaren Kurzgeschichten mit dem Sammelband SCHATTENLAND wieder erscheinen. Den Roman habe ich mit MARTERPFAHL für mich entdeckt, ausgehend von einer gleichnamigen Short Story aus den 90ern. Leider werden Kurzgeschichten in Deutschland nach wie vor nur stiefmütterlich behandelt. Zu Unrecht. Das möchte ich ändern. Nicht umsonst finden sich im Anhang meiner Romane Kurzgeschichten, die mich nicht loslassen, wie zum Beispiel NEUN ELF in der RABENSTADT.

VP: Seit der Ersterscheinung von MARTERPFAHL hat dein Bekanntheitsgrad kontinuierlich zugenommen. Hat sich dadurch etwas in deinem Alltag verändert?

SM: Der Druck am Schreibtisch ist größer geworden, und auch die Angst vor einer inneren Blockade. Mittlerweile gelingt es mir aber ganz gut, das alles auszublenden. Lob und Kritik ziehen jetzt zum Teil weite Kreise – und es ist für mich immer noch ein seltsames Gefühl, Bücher, die mir wildfremde Menschen schicken, zu signieren. Mit MARTERPFAHL scheine ich einen nostalgischen Nerv getroffen zu haben. Das Buch war zunächst ja nur ein Geheimtipp. Ein Schriftsteller, der behauptet, in erster Linie für sich selbst zu schreiben, sagt nicht die ganze Wahrheit. Ja, ich habe (m)ein Publikum gefunden, und das macht mich auch ein Stück weit stolz – ganz gleich, ob es meine Bücher nun liebt oder zerreißt. Am Schlimmsten wäre Gleichgültigkeit oder Sprache ohne Anspruch.

VP: Was können wir als nächstes von dir erwarten?

SM: SCHATTENLAND ist fertig und wird neben vergriffenen auch bislang unveröffentlichte Geschichten enthalten. Am dritten Roman arbeite ich seit dem Jahreswechsel – und auch für ihn nehme ich mir Zeit. Das, was ich mit MARTERPFAHL und RABENSTADT lernen durfte, fließt in das neue Buch ein. Und: Es wird dunkel. Sehr dunkel.

VP: Herzlichen Dank für das Interview und viel Erfolg beim VINCENT 2011.

SM: Ich habe zu danken. Schön, dass Ihr der Literatur ein Forum gebt.

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